Artikel

In der Hauptstadt des Kirschwassers

Urlaub in Frankreich. Foto: Julia Marre

Seit Jahren arbeitet Hugues de Miscault als Schnapsbrenner im französischen Fougerolles, der Hauptstadt des Kirschwassers. Was gefällt Ihnen denn am besten an Ihrem Beruf, Monsieur de Miscault?

35.000 Kirschbäume stehen im französischen Ort Fougerolles. Er gilt als die Hauptstadt der Kirsche und des Kirschwassers. Hugues de Miscault wohnt in dem Ort. Bis heute lässt ihn der Schnaps nicht los, den er schon als Kind mit in die Schule brachte.

Zufrieden schlendert Hugues de Miscault durch seine Kräuterbeete. Seine Hand streift das kniehohe Wermutkraut. Im Wind schwanken die Blätter. Wermut wächst hier neben Anis, Fenchel, Ysop, Engelwurz und Zitronenmelisse. „Riechen Sie nur mal“, sagt der Destillateur. Er zieht eine Hand aus der Hosentasche, reibt die Finger an einem Blatt Zitronenmelisse und atmet tief ein. „Das riecht köstlich!“ Hier, in Miscaults „Garten der grünen Fee“ im französischen Ort Fougerolles, wächst alles, was das Herz eines Schnapsbrenners höherschlagen lässt. Alles, was in einen guten Absinth gehört. Der legendäre Schnaps, der als „grüne Muse“ manch einen Künstler und Literaten geküsst und auch gebissen hat, ist eng mit der Historie von Fougerolles verbunden. Auch Hugues de Miscault stellt ihn in seiner Destillerie Paul Devoille seit Jahren her – neben diversen Obstbränden, Likören, Aperitifs und eingelegten Früchten.

Dass er Schnapsbrenner werden wollte, wusste der 50-jährige Unternehmer schon immer. „Weil es ein sehr vergnüglicher Beruf ist“, sagt er. Bereits sein Vater arbeitete als Destillateur. So kam Hugues de Miscault früh mit Schnaps in Berührung. Und schmuggelte ihn sogar in die Schule. „Ich füllte Schnaps in Colaflaschen um, um meinen Freunden etwas mitzubringen, als ich in die Oberstufe ging“, erinnert er sich. Doch sein Lehrer bemerkte den Trick, „und ich bekam eine Ohrfeige dafür.“ Heute erhält er für seine Destillerie in der Region Franche-Comté Auszeichnungen: Das französische Wirtschaftsministerium hat sie als „Patrimoine Vivant“, als lebendiges Kulturerbe, gewürdigt. Stolz zeigt der Chef die Plakette. Seine Brennerei ist ein Familienbetrieb, gegründet 1859 – zu einer Zeit, als der durchschnittliche Franzose jährlich 28,5 Liter Alkohol trank. Mittlerweile sind es nur noch knapp 12 Liter.

An der Theke verrührt de Miscault eine Kostprobe seines Absinths mit von Wasser getränktem Würfelzucker. Was er an seinem Job mag? „Dass er so vielseitig und innovativ ist.“ Wieder und wieder sucht de Miscault nach neuen Likörkreationen, experimentiert mit Geschmacksrichtungen und lässt sich von Kunden inspirieren. Holunder- und Klatschmohnschnaps fertigt seine Brennerei ebenso wie Tannenbrand oder Kastanienwasser. 450.000 Flaschen Alkohol produzieren seine 20 Mitarbeiter jährlich. Wie schon zur Gründungszeit des Unternehmens lagern unzählige Korbflaschen auf dem Dachboden der Destillerie. Kühl und düster ist es hier oben, wo ein guter Schnaps drei bis sechs Jahre lang reift.

Wenige Kilometer weiter: auf dem Dachboden des Ecomusée du Pays de la Cerise, dem Kirschmuseum. Licht blinzelt zwischen den Ziegeln hindurch. Direkt unter dem Dach des 1829 erbauten Sandsteingebäudes stapeln sich mehr als 200 Korbflaschen. Sie sind leer. „Seit 1991 ist in diesem Haus das Volkskundemuseum untergebracht“, erklärt Mitarbeiterin Florence Corbinaud. „Zuvor beherbergte es 150 Jahre lang eine industrielle Brennerei.“ Das Museum erzählt die Geschichte der Familie Aubry, die im Laufe der Jahrzehnte dank ihrer Destillerie reich geworden ist. Ahnenportraits hängen an der Wand, historische Gewänder in Schaukästen. „Im 19. Jahrhundert fuhr am Bahnhof täglich ein Alkoholzug ab“, sagt Corbinaud. „Das war sehr wichtig für die Brennereien hier in Fougerolles.“ Der Ort, der südwestlich der Vogesen zwischen Weiden und Wäldchen liegt, hat weniger als 4000 Einwohner. Damals, um 1900, gab es hier 40 Brennereien. Heute sind es gerade mal vier. Dank der Schnapsbrennereien, die sich ab dem 16. Jahrhundert angesiedelt hatten, war die Gegend wohlhabend – nicht nur Destillateure, auch Gewerbetreibende wie Korbflechter und Böttcher profitierten vom Alkoholgeschäft.

Florence Corbinaud blinzelt, als sie die Stube im Erdgeschoss betritt. Finster ist es unten, im repräsentativen Raum mit dem breiten Kamin. Und kühl. Die Dielenböden ächzen bei jedem Schritt. Eine Fliege brummt an den beleuchteten Glasvitrinen entlang. Um sie zu verscheuchen, fuchtelt die Museumsmitarbeiterin mit der Hand durch die Luft. „Damals gab es kein Ereignis, das nicht Anlass zum Alkoholtrinken bot“, erklärt sie. Es war üblich, dass Schwangere Alkohol tranken, sogar Kinderlippen wurden mit Absinthtropfen benetzt. Als das Getränk im Jahr 1915 wegen seiner toxischen Inhaltsstoffe verboten worden ist, bedeutete das auch in Fougerolles das Aus für die meisten Brennereien. „Es war eine Katastrophe“, sagt Corbinaud.

Die wenigen Brennereien, die überlebt haben, mussten ihr Sortiment umstellen. Hinzu kamen die beiden Weltkriege: Einerseits bremsten sie die wirtschaftliche Lage, andererseits forderten sie für die Soldaten an der Front einen erhöhten Alkoholbedarf. Jahrzehntelang war die Branche im Umbruch. „Erst 1950 begannen die Landwirte in Fougerolles damit, wieder Kirschwasser zu brennen“, sagt Florence Corbinaud. Aus dieser Zeit und noch älter sind die Exponate in den ehemaligen Brennwerkstätten des Museums. Edle Glaskaraffen und geschliffene Schnapsgläser aus dem Familienbesitz der Aubrys tuscheln noch immer über feuchtfröhliche Feste. Etliche Brennkolben und leere Flaschen, kupferne Destillatoren und riesige  Tanks erinnern an die aufwändige Arbeit, die mit dem Schnapsbrennen verbunden war. Wie Denkmäler harren die großen verzierten Holzfässer auf dem steinernen Boden der Brennwerkstatt aus.

Ein Blick in die Produktionsräume der Destillerie Paul Devoille zeigt: Die Zeiten haben sich geändert. Moderne Maschinen haben die Kupfertanks überlebt. Übereinander und nebeneinander stapeln sich die mehr als 30 quadratischen Aluminiumbehälter. Wie in einem Waschsalon sieht es aus. Neonröhren fluten den gefliesten Raum mit grellem Licht. Alkoholgeruch beißt sich durch die Luft. Auf Kreidetafeln an den Maschinen ist abzulesen, welche Schnäpse und Liköre abgefüllt werden. Reines Kirschwasser ist in der Brennerei beinahe eine Seltenheit. „Wir haben derzeit etwa fünf bis zehn Prozent Kirsch im Sortiment“, sagt Hugues de Miscault. „Der Rest sind andere Liköre.“ Der Alkoholmarkt habe sich stark verändert. Doch Fougerolles gilt noch immer als Hauptstadt der Kirsche: Weil der Boden in der Gegend, in der sich die Franche-Comté und Lothringen berühren, enorm sauer ist, haben die Früchte eine ganz besondere Geschmacksrichtung, eine eigene Note. De Miscault ist sich sicher: Ganz aus der Mode wird die Kirsche nie kommen. „Weil sie so vielseitig ist – und in der Konditorei genauso gefragt ist wie als Alkohol.“ Sein Lieblingsschnaps ist jedoch ein anderer als das Kirschwasser: Mirabellenbrand nämlich. Auf seiner Theke schenkt er sich ein Gläschen ein und lächelt. „Á votre santé“, sagt er. Auf die Kirsche.

Hier geht’s zum Artikel. Der Text ist am 6. Juli 2016 im „Kölner Stadt-Anzeiger“ erschienen.